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Heurtault – mit Schirm, Charme und Savoir-faire

Marke: Heurtault Markenmacher: Michel Heurtault

Marke: Heurtault

Markenmacher: Michel Heurtault

Ganz Frankreich wird von Billigschirmen aus Asien überschwemmt. Ganz Frankreich? Nein, ein klitzekleiner Handwerksbetrieb im Pariser 12. Arrondissement hat dem schnell produzierten Massenprodukt den Kampf angesagt – mit Materialien aus der Vergangenheit und einem einzigartigen Savoir-faire.

Der Mops ist leicht nach unten gerutscht. Ein großer schwarzer Schäferhund liegt oben auf, dazwischen schlängelt sich ein Drachenkopf. Die Tiere warten – manchmal Jahre. Doch irgendwann greift Michel Heurtault beherzt zu und holt sich genau den Tierkopf heraus, den er für seine nächste Schirmkreation braucht. Der Kunsthandwerker aus Paris fertigt nach alter Manier per Hand und ist spezialisiert auf alte oder besser gesagt antike Schirme: «Vom 18. Jahrhundert bis 1960 restauriere ich alles!» Und zwar originalgetreu. In der Parasolerie Heurtault wird ein kaputtes Vintage-Stück nach allen Regeln der Kunst in den Ursprungszustand zurückversetzt – mit Materialien und Stoffen von damals.

Das Ergebnis meiner Arbeit muss noch schöner sein als das Original. Nur das Resultat zählt.

Hat der Schirmmacher den notwendigen, historischen Stoff nicht zur Hand, nimmt er den Auftrag erst gar nicht an. Doch dieser Fall ist eher unwahrscheinlich. Ein Blick in den Keller seines Atelier-Shops im Pariser 12. Arrondissement genügt, um zu wissen, dass dort Ersatzteile für sehr viele Jahrhunderte und noch mehr Schirmformen vorrätig sind. Gleich einer übergroßen Schatzkiste reihen sich im Untergeschoß auf den Metallregalen Kartons an Kartons: mit Knäufen in Form von Hunden, Katzen, Pferden, Vögel plus den dazu passenden Tieraugen.

Ein paar Meter weiter quellen die Kisten über von Spazierstöcken, daneben liegen Stoffballen, Meterware an alter Spitze und historischen Stickereien. Weiter unten verstecken sich – sortiert nach Jahrzehnten – Kartons mit rund 3000 bis 4000 vollständigen, aber reparaturbedürftigen Schirmen, sorgsam in Seidenpapier gewickelt. Wo an den Wänden noch Platz ist, hängen eng an eng nackte Gestelle aus Fischbein oder Metall.

Die besten Materialien früherer Zeiten

Das bunte und äußerst wertvolle Sammelsurium aus Seide, Leinen, Edelhölzern, Elfenbein oder Bakelit ist das Ergebnis jahrelanger Flohmarkt- und Auktionsbesuche.

Seit 25 Jahren kauft und sammelt Michel Heurtault. Schließt mal wieder eine Schirmfabrik, ist er ein dankbarer Abnehmer. Genau vier Hersteller gäbe es noch in Frankreich. «Aber man darf sich nichts vormachen, die Schirme dort sind zu 90 Prozent in China vorgefertigt», empört sich der drahtige Mittvierziger und rollt die großen braunen Augen. Die billigen Import-Schirme aus Asien, die heute an allen Ecken verkauft werden, sind ihm, dem Handwerker, ein Dorn im Auge. «Einmal aufgeklappt, schon sind sie kaputt. 15 Millionen wandern jedes Jahr in Frankreich auf den Müll. Da sie nicht recycelbar sind, werden sie verbrannt und das verseucht den Boden!»

Rein aus ökologischen Gesichtspunkten mache es daher schon Sinn, in Heurtaults Laden unter den Arkaden einer stillgelegten Metro-Hochbahn vorbeizuschauen.

Seine, aus guten alten Materialen handgefertigten Schmuckstücke halten nicht nur 20 bis 30 Jahre, sie schauen auch viel edler aus als die industrielle Fertigware. In dem kleinen Geschäft mit den rosafarbenen Wänden gibt es Schirme für jedes Wetter und jede Gelegenheit: gegen Regen, gegen Sonne, für eine Hochzeit, für einen historischen Film, für eine Haute Couture Show... Die Modelle für Herren sind die Bestseller.

Der Stil des Gentleman ist zurück. Frauen wollen was Trendiges, während Männer nach einem schönen Objekt suchen.

Auch das Tragen eines Sonnenschirms komme wieder in Mode, meint hoffnungsvoll der Firmeninhaber. «Wir haben viele asiatische und australische Kundinnen, die Sonne meiden. Nicht zu vergessen die Damen, die eine Schönheitsoperation hinter sich haben. Die müssen aufpassen, denn ihre Haut ist viel empfindlicher.» Wie ein Wirbelwind saust der zarte, kleine Franzose durch seinen Laden, öffnet einen Schirm nach dem anderen. «Hören Sie nur, wie sich der Seidentaft spannt. Oder dort: Im Stab aus dem Jahr 1900 versteckt sich eine Puderquaste zum Schminken! Ach und dieser hier, von 1910, aus weißer Seide, gefüttert und mit Originalfedern. Die wippen, wenn man damit spazieren geht.“ Michel Heurtault freut sich über seine Schätze wie ein kleines Kind. Nach eigenen Aussagen hat er 38’000 historische Modelle im Kopf abgespeichert. Mit einem Blick weiß er, ob ein Schirm aus dem Jahr 1920 oder 1921 stammt. «1920 waren die Stöcke über Wasserdampf gezogen und aus einem Stück, die Schirmform war rund. 1921 wurden sie flacher, der Stock wurde unten mit einem Griff verstärkt. Außerdem sind die Spitzen viel größer.» Um sein Wissen zu untermauern, rennt er nach hinten in die Werkstatt und holt das passende Jahrbuch der Zeitschrift «La Mode Illustrée» aus dem Regal. Tausendfach hat er die Bücher gewälzt, er kennt sie auswendig. Alle.

Autodidakt aus Leidenschaft

Sein unglaubliches Wissen über Schirme hat sich der Wahlpariser selbst angeeignet, wie auch das Savoir-faire, historische Schirme zu restaurieren.

«Ich habe sie zerlegt, analysiert und wieder zusammengebaut. So lange, bis ich es konnte.»

Die Mühe hat sich gelohnt, denn sein Können gilt heute als einzigartig. Und das sprach sich herum. Nach nur einem Jahr wurde die Firma, die erst Ende 2008 gegründet wurde, in die Riege der «Grands Atelier de France» aufgenommen, wenige Monate später verlieh das Wirtschaftsministerium dem Zwei-Mann-Betrieb die hohen Weihen des «Patrimoine Vivant», einer Auszeichnung für Exzellenz. Für 2013 hat der Autodidakt, der täglich zehn Stunden und mehr in seiner Werkstatt steht, den nächsten Titel im Visier. «Alle haben mir eingeredet, dass ich mich für den Maître d’Art bewerben soll. Das ist das Höchste, was man im französischen Handwerk erreichen kann. Ich muss dazu vor einem Gremium sprechen. Mich stresst das unglaublich.» Dass andere entscheiden, ob er den Titel verdient oder nicht, passt Michel Heurtault gar nicht.

Ich bin ein sehr freier Geist und ich mache, was ich will. Wenn mir etwas nicht mehr gefällt, höre ich auf.

Das Schirmmachen ist bereits sein vierter Beruf, das kleine Unternehmen seine dritte Firma. Der Spross einer uralten Militärfamilie aus Toulon lernte erst Koch, machte dann eine Schneiderlehre, ging nach Paris, wo er sich auf Theater und Filmkostüme spezialisierte und nebenbei Korsetts für Dior schneiderte. «Ich hatte sehr viel Erfolg, ein gutes Gehalt, aber ich wollte was Eigenes machen.» So entstand ein Verleih für historische Kostüme mit dazu passendem Berater-Service. Der Südfranzose konnte sich bald vor Aufträgen nicht mehr retten, arbeitete Tag und Nacht bis zu dem Tag, wo er beschloss: «Ich zerstöre die Firma.» Seine Schätze verteilte er bis nichts mehr übrig war. Es folgte der nächste Job, als selbstständiger Stylist für reiche Leute. «In der Zeit reiste ich viel und hatte ein super Leben. Aber bald merkte ich: Es war ein goldener Käfig und ich wollte in die Freiheit.» Mitten in dieser wirren Zeit bestellte Yves Saint Laurent bei ihm einen Schirm.

Der Auftrag war das reinste Vergnügen. Da wusste ich, dass ich Schirme machen sollte.

Die kleine Firma unter der still gelegten Metrobrücke, die er zusammen mit seinem alten Freund und ausgewiesenen Finanzexperten Jean-Yves Thibert führt, sieht er noch immer als Start-Up. 2012 gab es erstmals schwarze Zahlen, der Ruf ist gut, die Markt-Aussichten nicht schlecht und weltweit gibt es keinen einzigen Konkurrenten. Außer sein Lehrling Andrea, der bald fertig gelernt hat, verlässt ihn. «Natürlich kann er woanders hingehen, aber er wird nirgendwo einen netteren Chef als mich finden», grinst der Boss in seinen Vollbart hinein. Für die kommenden Jahre ist die Agenda gut gefüllt: Vor allem das Geschäft mit den selbst kreierten Schirmen soll ausgebaut werden. «Als ich startete, hatte ich an eine eigene Kollektion gar nicht gedacht.» Heute bringt sie weit mehr als die Hälfte des Umsatzes ein.

Die Preise für Neuanfertigungen beginnen bei 250 Euro und können bis auf 10’000 Euro für einen handbestickten Hochzeits-Schirm klettern.

Marketing ohne Budget, aber mit Ideen

Viel Hoffnung setzt das Geschäfts-Duo auf die Filmindustrie. Im winzigen und vollgestopften Atelier in der Avenue Daumesnil träumt man von Hollywood und Bollywood. Ein erster Schritt zur Kontaktaufnahme ist getan: «Unsere Schirme spielen im neuen Woody Allen Film mit, der in Südfrankreich gedreht wird.» Leinwand-Auftritte gab es bereits in den französischen Streifen «Leb wohl meine Königin» mit Diane Kruger und Luc Bessons Komödie «Adeles ungewöhnliche Abenteuer». Über solche und andere prominente Auftritte sowie die zahlreichen Auszeichnungen informiert die aufwendig gestaltete Website, die 2013 erneut überarbeitet wird. Künftig soll der Online-Auftritt noch besser die Emotionen des Savoir-faire, den Wert der handgemachten Produkte und die Begeisterung sowie das historische Wissen Michel Heurtaults vermitteln. Ganz nach dem Motto des Gründers: «Man muss die Vergangenheit sehr genau kennen, um sich für die Zukunft zu rüsten.»

  • Übersetzung: Tessa Pfenninger
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